Brennpunkte

Bundesverfassungsgericht verhandelt über neues Wahlrecht

  • AFP - 23. April 2024, 17:45 Uhr
Bild vergrößern: Bundesverfassungsgericht verhandelt über neues Wahlrecht
Der Bundestag, derzeit zweitgrößtes Parlament der Welt.
Bild: AFP

Die Wahlrechtsreform der Ampelkoalition hat das Bundesverfassungsgericht beschäftigt. Am ersten der auf zwei Tage angelegten Verhandlung kamen zunächst vor allem jene zu Wort, die gegen die Reform vor Gericht gezogen waren: Union und Linke.

Die Wahlrechtsreform der Ampel-Koalition hat am Dienstag das Bundesverfassungsgericht beschäftigt. Am ersten der auf zwei Tage angelegten Verhandlung in Karlsruhe kamen zunächst vor allem jene zu Wort, die gegen die Reform vor Gericht gezogen waren - Vertreter der Unionsparteien und der Linken. Dabei hagelte es Vorwürfe in Richtung der Bundesregierung. (Az. 2 BvF 1/23 u.a.)

So beschuldigte der CSU-Landesgruppenchef im Bundestag, Alexander Dobrindt, die parlamentarische Mehrheit, "für die eigene Sache tätig geworden" zu sein. Auch der Linken-Politiker Gregor Gysi äußerte den Verdacht, dass eine Mehrheit missbraucht worden sei, "um die Möglichkeit zu schaffen, zwei Parteien aus dem Bundestag zu drängen".

Mit diesen zwei Parteien meinte Gysi Linke und CSU. Beide sind von der im vergangenen Jahr vom Parlament beschlossenen Reform potenziell besonders betroffen. Dabei geht es um zwei Punkte - die Abschaffung von Überhang- und Ausgleichsmandaten sowie der sogenannten Grundmandatsklausel.

Ziel der Reform ist, dass der Bundestag kleiner werden und in Zukunft nur noch 630 Abgeordnete zählen soll. Bislang bekam eine Partei Überhangmandate, wenn sie mehr Wahlkreise gewann, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis Sitze zustanden. Für die anderen Fraktionen gab es dann Ausgleichsmandate. So wurde der Bundestag immer größer. Um dieses Anwachsen zu verhindern, sollen die Mandate zukünftig komplett anhand der Mehrheitsverhältnisse bei den Zweitstimmen vergeben werden. 

Wahlkreisgewinner ziehen also nur dann in den Bundestag ein, wenn ihr Mandat von dem Kontingent gedeckt ist. Dies könne zu "verwaisten Wahlkreisen" führen, befürchtete Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU). Vor allem seien Parteien betroffen, die nur in einem Bundesland zur Wahl antreten, wie die CSU.

Politikwissenschaftler wie etwa Frank Decker von der Universität Bonn berichteten wiederum, dass bei der Erststimme meist die Partei und nicht die Person entscheidend sei. Viele Wählerinnen und Wähler kennen der Forschung zufolge den Unterschied auch nicht oder verwechseln die beiden Stimmen.

Der zweite Knackpunkt der Reform, der Wegfall der Grundmandatsklausel, könnte bei einem besonders schlechten Wahlergebnis auch die CSU treffen. Vor allem aber gefährdet er die Linkspartei. Bislang zogen Parteien auch dann mit der Stärke ihres Zweitstimmenergebnisses in den Bundestag ein, wenn sie an der Fünfprozenthürde scheiterten, aber mindestens drei Direktmandate gewannen. Das war 2021 bei der Linken der Fall.

Union und Linke beklagen nun nicht nur das Ende der Grundmandatsklausel an sich, sondern auch, dass es 2023 recht kurzfristig beschlossen wurde. "Mir ist die Tragweite im Hinblick auf die CSU in diesem Augenblick nicht klar gewesen", berichtete CDU-Chef und Unionsfraktionschef Friedrich Merz. Dagegen sagte die Bevollmächtigte der Bundesregierung, Sophie Schönberger, der Sachverhalt sei "extrem einfach - die Fünf-Prozent-Hürde gilt für alle, es gibt keine Ausnahme mehr".

Der Berliner Politologe Thorsten Faas von der Freien Universität verwies darauf, dass die Grundmandatsklausel auch bislang nicht immer verhindert habe, dass bestimmte Wählerinnen und Wähler im Bundestag nicht repräsentiert waren. Als "strategisches" Beispiel führte er die FDP an: Sie sei 2021 stärkste Kraft unter jungen Männern geworden, holte aber keine Direktmandate. 

Würde sie weiter von vielen jungen Männern gewählt, aber an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, wäre die Gruppe der jungen Männer demnach auch mit Grundmandatsklausel nicht repräsentiert. "Es fällt mir schwer, abstrakt Gründe für die Grundmandatsklausel zu finden", sagte Faas. Für regionale Kriterien würde ein "doppelter Boden" eingezogen, für andere nicht.

Neben der bayerischen Staatsregierung sowie der CSU, 195 Mitgliedern der Unionsfraktion im Bundestag, der Linkspartei und ihrer früheren Fraktion hatten sich Linken-Abgeordnete und mehr als 4000 Privatpersonen, gebündelt vom Verein Mehr Demokratie, an das Gericht gewandt.

Vertreter der Regierungsfraktionen verteidigten die Reform. "Das Wahlsystem ist fair", sagte etwa der SPD-Abgeordnete Sebastian Hartmann vor Beginn der Verhandlung. Es gebe "keinerlei Verzerrung mehr". Die Menschen in Deutschland hätten "kein Verständnis dafür, wenn der Bundestag immer größer wird", argumentierte der FDP-Politiker Konstantin Kuhle.

Die Verhandlung soll am Mittwoch fortgesetzt werden. Ein Urteil fällt erfahrungsgemäß einige Monate nach der mündlichen Verhandlung, Vertreter der Fraktionen rechneten noch für dieses Jahr damit. Viel Zeit hat das Gericht nicht - schon im Spätsommer oder Herbst 2025 soll die nächste Bundestagswahl stattfinden.

Weitere Meldungen

Durchsuchungen bei Berliner Polizeischülern wegen mutmaßlichen Prüfungsbetrugs

Wegen mutmaßlichen Prüfungsbetrugs hat die Berliner Polizei die Wohnungen zweier Polizeischüler und die Polizeiakademie in Berlin-Spandau durchsucht. Wie Polizei und

Mehr
Staatsschutz ermittelt nach Angriff auf Grünenpolitiker in Essen

Essen (dts Nachrichtenagentur) - Der dritte Bürgermeister von Essen, Rolf Fliß (Grüne), ist am Donnerstagabend Opfer einer Gewalttat geworden. Das geht aus einer Lagemeldung des

Mehr
Mehrere Tote bei Explosionen in einem Vertriebenenlager in der DR Kongo

In der Demokratischen Republik Kongo sind mehrere Menschen bei Explosionen in einem Vertriebenenlager im Osten des Landes getötet worden. Nach Angaben von Augenzeugen fielen am

Mehr

Top Meldungen

Wärmepumpenhersteller kämpft mit Umsatzeinbußen

Allendorf (dts Nachrichtenagentur) - Der schwache Markt für Wärmepumpen hat dem deutschen Unternehmen Viessmann das erste Quartal 2024 verhagelt. "Wir liegen 10 Prozent unter

Mehr
Arbeitgeber lehnen Schlichterspruch ab - Streiks im Bau drohen

Berlin (dts Nachrichtenagentur) - Die Arbeitgeberverbände von Bauindustrie und Baugewerbe lehnen den Schlichterspruch von Mitte April ab - damit drohen Streiks auf deutschen

Mehr
US-Arbeitslosenquote im April auf 3,9 Prozent gestiegen

Washington (dts Nachrichtenagentur) - Die Arbeitslosenrate in den USA ist im April auf 3,9 Prozent gestiegen, nach 3,8 Prozent im Vormonat. Das teilte das US-Arbeitsministerium am

Mehr